7. Mai 2008
Geschichte ist für viele Schüler ein unbeliebtes Fach. Da werden Zahlen auswendig gelernt und die Abfolge von Herrschern. Sonst nichts. Muss das so sein?
Prof. Dr. Günter Dippold: Ich bin ein Verfechter soliden Faktenwissens. Wer ein gutes Gerüst hat, kann Einzelheiten besser einordnen, sich zeitliche Abläufe vorstellen und Dinge miteinander in Zusammenhang bringen. Was ich aber nicht gutheiße, ist die Stoffbulimie, die häufig betrieben wird. Schüler lernen Fakten und Zahlen auswendig, geben sie für eine Klausur wider und vergessen alles im selben Moment. Und manche Lehrer forcieren das sogar noch. Ich sage: Geschichte ist etwas ganz anderes.
Was denn?
Geschichte ist das humanste aller Fächer. Denn ihr geht es um den Menschen als Ganzes. Wie funktionieren Menschen? Wie funktionieren menschliche Gemeinschaften? Wie verhalten sich Menschen in bestimmten Situationen? Das sind die zentralen Fragen der Geschichte. Thema ist der handelnde Mensch. Thema sind Bewegungen im Denken.
Und außerdem lernt man in der Geschichte wissenschaftliches Arbeiten. Also nicht nur richtiges Zitieren. Das ist ja lediglich wissenschaftliches Handwerkszeug. Wissenschaftlich arbeiten, das bedeutet: Fragen zu entwickeln, diese Fragen dann auch zu stellen und diese Fragen schließlich nachvollziehbar zu beantworten. Wissenschaftlich arbeiten, das bedeutet Wissen zu akquirieren, also Quellen aufzutun, dieses Wissen zu strukturieren, dieses Wissen zu bewerten und schließlich dieses Wissen so aufzubereiten, dass auch andere etwas davon haben. Und das sind Fähigkeiten, die man im täglichen Leben brauchen kann.
Brauche ich dafür ein Unterrichtsfach Geschichte?
Ja, wir brauchen Geschichte als Unterrichtsfach. Aber wir brauchen noch viel mehr. Wenn ich ernsthaft und verantwortungsvoll Geschichte lehren und reflektieren will, dann bin ich immer auch im Deutschen, immer auch in der Heimatkunde, immer auch in der Sozialkunde, oft in der Geografie und darüber hinaus in vielen Bereichen, die der derzeitige Schulfachzuschnitt gar nicht anbietet: Psychologie, Recht, Verwaltung, Volkswirtschaft, Philosophie. Das könnte man alles auch ganz anders gliedern.
Wie denn zum Beispiel?
Wir haben ein Fach Kunsterziehung. Da geht es ausschließlich um bildende Kunst. Warum haben wir kein Fach darstellende Kunst? Sich in einen anderen Charakter hineindenken, dessen Sprache und Gestik wiedergeben, vor Publikum auf einer Bühne tätig werden. Das ist doch ein großes Lernfeld. Und zwar nicht nur fachbezogen. Man müsste genau genommen noch viel weiter gehen und viel weniger in einzelnen Fächern denken. Das Leben zerfällt ja auch nicht in lauter thematisch verschiedene und voneinander unabhängige 45-Minuten-Einheiten. Wir müssen weg vom Spezialistentum und dahin kommen, dass unsere Abiturienten und später unsere Hochschulabsolventen in einem geisteswissenschaftlichen Kontext breit aufgestellt sind.
Wie kann man das erreichen?
Indem man die Neugier der Schüler pflegt. Neugier ist die Grundvoraussetzung von Wissenschaft.
Ich kenne keinen Fünfjährigen, der nicht neugierig ist. Aber ich kenne zahlreiche 19-Jährige, die sich für nichts begeistern können. Dazwischen liegt die Schulzeit. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Ich sehe wohl, dass viele Abiturienten an die Uni kommen, die keine Freude am Lernen haben. Natürlich ist Lernen anstrengend. Aber das ist in den Urlaub fahren auch. Natürlich kann ich das Thema Industrialisierung so lehren und lernen, dass es spröde bleibt. Aber haben Sie sich schon einmal überlegt, welche Rolle die Kartoffel für die Industrialisierung spielte?
Ehrlich gesagt ...
Sehen Sie. Ein Getreidebrei muss stundenlang auf dem Herd vor sich hin köcheln, da muss Holz nachgelegt, da muss gerührt werden. Wer sich so ernährt, kann nicht stundenlang außer Haus einer Erwerbsarbeit nachgehen. Kartoffeln sind wesentlich schneller fertig und man kann sie gekocht aufbewahren, um sie später zu essen. Ein Getreidebrei wird hart und ungenießbar. Verstehen Sie, was ich meine?
Allmählich.
Ein anderes Beispiel. Wir lernen aus der Geschichte, dass Wanderungsbewegungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel in der Geschichte sind. Wenn wir genau hinschauen, wer denn unsere berühmten barocken Baudenkmäler geschaffen hat, sehen wir: Da waren Italiener, Franzosen, Schweizer, Altbayern, Böhmen maßgeblich beteiligt. Und viele davon sind geblieben. Und ihre Nachkommen sind ganz selbstverständlicher Teil unserer dörflichen und kleinstädtischen Gesellschaften geworden. Heute wird viel darüber gesprochen, dass sich ausländische Mitbürger assimilieren sollen. Wir erleben, dass dies vielfach nicht gelingt. Könnte das vielleicht daran liegen, dass unsere Gesellschaft wenig bietet, zu dem man sich assimilieren wollte oder könnte? Was macht heute unsere Kultur, unseren Umgang miteinander aus? Warum stellen wir im Geschichtsunterricht keine solchen Fragen?
Oder eine andere Frage: Warum gehen wir davon aus, dass es kontinuierlich aufwärts geht? Von kontinuierlichem Wirtschaftswachstum zum Beispiel. Von dauerndem Fortschritt. Wer ernsthaft, wach und interessiert Geschichte betreibt, der weiß, dass es solche Kontinuität so nicht gibt. Es gibt Brüche in der Entwicklung. Und was Geschichte noch zeigt: Nicht alles, was neu ist, ist immer auch gut. Nicht alles, was modern ist, ist ein Fortschritt.
Wir neigen dazu, ohne Rückspiegel zu fahren. An der Geschichte kann man Mechanismen erkennen. Man lernt, in Prozessen und nicht statisch zu denken.
Kann man auf diese Weise aus der Geschichte für die Zukunft lernen?
Nein, aber man versteht die aktuellen Fehler besser. Man kann lernen, dass es „schon immer“ nicht gibt. Und dass Entwicklung Zeit braucht. Geschichte macht gelassen.
Interview: Christa Burkhardt
Interview: Christa Burkhardt