22. August 2007
VON CHRISTA BURKHARDT
Zeit heilt Wunden, heißt es. Das stimmt nicht, erleben die Opfer von Verbrechen jeden Tag wieder. Es gibt keine Heilung. Es gibt kein Vergessen. Ein ganzes Leben lang nicht. Oft leiden noch Kinder und Kindeskinder unter den Folgen. Zwei Beispiele.
COBURG - Wenn bei Elke Seifert das Telefon klingelt, weiß sie nicht, wer dran ist und was sie erwartet. Bei ihr zu Hause steht der Telefonapparat des Weißen Rings in Stadt und Landkreis Coburg. Hier suchen Verbrechensopfer Hilfe.
Manche erzählen ihre ganze Leidensgeschichte, manche weinen, manche brauchen materielle Hilfe und manche den Rat, einen Anwalt aufzusuchen. Der Weiße Ring unterstützt sie alle. "Wir helfen Kriminalitätsopfern", lautet sein Motto. Eine Hilfe, die manchmal mit eine Telefonat geleistet ist und manchmal jahrelang andauert.
Elke Seifert überlegt. "Ein Opfer bleibt ein Opfer, auch wenn es sich monatelang nicht mehr bei uns gemeldet hat." Viele rufen an, weil sie Opfer von Gewalt sind, sehr oft Opfer sexueller Gewalt. Dabei ist die Vergewaltigung auf einsamen Parkwegen der seltenste Fall. Sexuelle Gewalt ist im engsten familiären Umfeld zu Hause.
"Viele Kinder werden von nächsten Verwandten oder besten Freunden der Eltern sexuell missbraucht. Und zwar nicht einmal, sondern jahrelang immer wieder", weiß Elke Seifert und fragt: "Wie soll sich so ein Kind gesund entwickeln? Wie soll es vergessen? Wie soll es als Erwachsener ein normales Leben führen?"
Denn das, was es jahrelang erlebt, ist nicht normal. Dabei ist die körperliche Gewalt noch die am wenigsten schmerzhafte. Das Kind vertraut seinem Peiniger. Es wird schon richtig sein, was er tut. Ich muss das mit mir machen lassen. Ich darf es keinem erzählen, sonst streiten Mama und Papa, und ich bin schuld.
Mit solchen Überlegungen leben betroffene Kinder. Seifert: "Und wenn sie es dann doch erzählen, glaubt ihnen keiner." Und sie fragt weiter: "Wie soll man so etwas vergessen?" Auch André Oestreich, ebenfalls ehrenamtlicher Mitarbeiter des Coburger Weißen Rings, zuckt die Schultern.
"Viele Opfer sind Weltmeister im Verdrängen. Sie führen ein Parallelleben, in dem der sexuelle Missbrauch, in dem die Vergangenheit nicht vorkommt. Aber das geht selten ein Leben lang gut."
Ein bestimmter Geruch, eine Melodie, eine Stimme, ein bestimmter Ort, und die Erinnerung ist schlagartig wieder da. "Das können viele Außenstehende nicht verstehen, dass jemand jahrelang mit so einem Erlebnis scheinbar ganz normal leben kann, das sich plötzlich, oft Jahrzehnte später erst, seinen Weg ins Bewusstsein sucht." Männer sind im Verdrängen übrigens besser als Frauen, weiß der Weiße Ring. Die Scham, als Kind missbraucht worden zu sein ist im "starken Geschlecht" viel größer.
Oft klappt das Verdrängen solange gut, bis die längst erwachsenen Opfer eigene Kinder haben. "Wer Gewalt in der Familie erlebt hat, läuft viel eher Gefahr, auch die eigenen Kinder zu schlagen", sagt Elke Seifert. Das selbst Erlebte wird an die Kinder weitergegeben.
Opfer, die nicht verdrängen, versuchen oft auf bewundernswerte Weise, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Elke Seifert: "Ich habe schon minderjährige Mädchen begleitet, die keinen Tag, keine Minute der Gerichtsverhandlung ihres Peinigers versäumten. Sie wollten da durch." Vielen Opfer bedeutet es sehr viel, den Täter zu kennen, ihn zu benennen, ihm gegenüber zu sitzen und mitzuerleben, wie er von der Justiz einer Strafe zugeführt wird.
Aber der Tag der Urteilsverkündung für den Täter ist nicht der Tag, der das Opfer-Sein beendet. Manchem Opfer ist das Urteil eine Genugtuung. Aber die Erinnerung an das Erlebte bleibt. Manchem gibt das Urteil Sicherheit: Jetzt kann er/sie mir nichts mehr tun. - Aber für wielange?
Ein Beispiel, das im Vergleich zu sexuellem Missbrauch fast banal zu sein scheint, ist ein Einbruch. Geld weg, Stereoanlage weg, Münzsammlung weg. Na und, ist doch nur ein materieller Schaden, ist doch alles zu ersetzen. André Oestreich schüttelt den Kopf.
"Bei einem Einbruch geht es um etwas ganz Anderes als um den Diebstahl materieller Werte." Nach dem eigenen Körper ist das Heim der intimste Bereich eines Menschen. Ein Einbruch ist ein Eindringen in die Intimsphäre. Wildfremde Menschen kehren in den eigenen vier Wänden das Unterste zuoberst.
Oestreich: "Stellen Sie sich vor: Sie wissen nicht, wer in Ihren persönlichsten Dingen gewühlt hat. Sie wissen nicht, wielange er in Ihrem Haus, an Ihrem Schreibtisch, in Ihrem Schlafzimmer war, und: Sie fühlen sich in Zukunft nicht mehr sicher. Ihr Zuhause ist nicht mehr Ihr Zuhause."
Elke Seifert nickt. Sie kennt Menschen, die nach einem Einbruch Knall auf Fall umziehen oder ihr eigenes Haus verkaufen mussten, weil sie mit dieser Bürde nicht mehr leben konnten. Auch diese Opfer unterstützt der Weiße Ring. Auch ihnen hilft es häufig, wenn der oder die Täter gefasst werden.
Aber auch sie bleiben Opfer und fühlen sich vielleicht nie mehr so sicher und nirgends mehr so zu Hause wie sie es vor dem Einbruch taten.